KAUM SPRICHT JAROMIL sein erstes Wort, weiß die Mutter: Jaromil wird ein berühmter Dichter. Doch der Preis ist hoch. Die Mutter wacht über jeden Schritt, den er tut, über jedes Wort, das er schreibt. Inzwischen erwachsen und immer noch in den Fängen der Mutter, verspürt Jaromil Hass. Nur gegen wen soll er ihn richten? Also verrät er seine besten Freunde an die Machthaber.
Fischer Verlag, online
Ich höre schon jetzt das Geschrei, das Kunderas großes Buch auslösen wird. Es wird nicht nur ein Schrei der Bewunderung sein. Man kann schon jetzt das Gellen der Hinterwäldler hören, die meinen, sie hätten alle Probleme gelöst, indem sie Kundera nicht veröffentlichen und ihn zum großen Unsichtbaren machen. Und ich höre schon den wehen Schmerzensschrei derer, die nicht begreifen wollen, dass Kundera, dieser Don Quijote des Sarkasmus, im Namen der Realität ihrer Mythen die Knospen der Legenden aufreißt, in denen es keine Realität gibt.
Claude Roy, Vorwort zur Toronto-Ausgabe
Revolution und Jugend gehören zusammen. Was kann die Revolution Erwachsenen versprechen? Den einem Ächtung den anderen Gunst. Doch selbst mit dieser Gunst ist es nicht weit her, denn sie betriffr nur die schlechtere Hälfte des Lebens und bringt neben Vorteilen auch Unsicherheit, aufreibende Aktivität und Störung von Gewohnheiten. Die Jugend ist wesentlich besser dran: sie ist von keiner Schuld beschwert und kann von der Revolution in Schutz genommen werden. Die Unsicherheit revolutionärer Zeiten ist für die Jugend von Vorteil, da die Welt der Väter in Unsicherheit gestürzt wird (…). An den tschechischen Hochschulen waren die kommunistischen Professoren in den ersten Jahren nach 1948 in der Minderheit. Wenn sich die Revolution einen Einfluss auf die Universität sichern wollte, musste sie die Macht den Studenten geben. Jaromil arbeitete in der Fakultätsorganisation des Jugendverbandes und war Prüfungsbeisitzer. Nach den Prüfungen referierte er vor dem politischen Ausschuss der Schule, welcher Professor wie geprüfr, welche Fragen er gestellt und was für Ansichten er geäußert hatte, so dass die eigentliche Prüfung eher vom Prüfer als vom Geprüften abgelegt wurde.
Fischer Taschenbuch, 2015, SS. 208-209
Angesichts der Komplexität Kunderas ist es verlockend, in all dem eine politische Allegorie zu suchen, aber ich denke, die indirekten Andeutungen des Autors sind dafür zu direkt. Kundera versucht herauszufinden, wie man der Wahrheit auf die Spur kommt. Gleichzeitig sehnt sich der Roman danach, all die anderen Romane zu werden, die er hätte werden können. In diesem Roman hat Kundera die Fallen, die er sich selbst mit seinem Ansatz voller Andeutungen und Anspielungen stellt, noch nicht ganz erkannt; aber es ist ihm gelungen, das für ihn so typische Räderwerk zu schaffen, mit dem er den Leser mit der Leichtigkeit einer flüchtigen Berührung in die Tiefe seiner Ernsthaftigkeit ziehen kann.
Wie oft erinnert uns Milan Kundera daran, dass nur Menschen mit einem Sinn für Humor das Komische wahrnehmen können, den die Herolde der neuen Ordnung oder gar die Herolde der Rückkehr zur alten Ordnung fast nie haben. Und seine Romane zeigen gut, wie gefährlich Menschen ohne Humor sind. So nehmen auch die heutigen sich und ihr Schwärmen von der alles durchdringenden Revolution, die die Welt vor unseren Augen verändert, durchaus ernst, als ob es einen Weg zurück gäbe. Und wenn sich ihre Überzeugungen nicht auf die gute Art umsetzen lassen, wo wird es eben auf die schlechte Art gehen. Auch in dieser Hinsicht ist Kunderas Jaromil ein mahnendes Memento.
Kundera variiert sein Lieblingsthema: den (willentlichen und unwillentlichen) Verrat. In der Politik, in den Freundschaften, in der Liebe. „Das Leben ist anderswo“ ist, wie bei Kundera nicht anders zu erwarten, auch eine Liebesgeschichte. Proletarische Romantik führt Jaromir zu einer schlichten Verkäuferin, die er durch seine politische Dummheit prompt ins Gefängnis bringt.
Kunderas Roman ist intelligent geschrieben, überraschend in der Erzählweise, symbolträchtig und unterhaltsam zugleich, effektvoll im Stil und zwingend in der Darstellung. Es kommen in ihm praktisch immer die gleichen Fragen vor, die den Helden durch das Buch begleiten: Was bedeutet Jugend? Was ist lyrische Haltung? Welche mysteriöse Rolle spielt eine Mutter hinsichtlich der Entstehung der lyrischen Welt ihres Sohnes? Und wenn die Jugend die Zeit der Erfahrung ist, worin besteht dann der Zusammenhang zwischen Unerfahrenheit und Absolutheitsanspruch? Oder zwischen dem Streben nach Vollkommenheit und revolutionärem Eifer? Wie äußerst sich die lyrische Haltung in der Liebe? Gibt es überhaupt lyrische Formen der Liebe?
Der Roman gibt kaum Antwort auf diese Fragen. Die Fragen sind, so Kundera, für sich schon eine Antwort. Wie sagt doch Heidegger: Das Wesentliche des Menschen hat die Form einer Frage.
„Das Leben ist anderswo“ ist Kunderas Romanepos über einen lächerlich hilflosen und doch berührenden jungen Mann, aus dem seine Mutter einen Dichter machen will und von deren Ehrgeiz und erdrückender Fürsorglichkeit er sich zu keiner Zeit befreien kann. Milan Kundera schrieb die literarische Obsession einer Adoleszenz, die pubertäre Abhängigkeit eines Jugendlichen auf der Schwelle zum Erwachsenen.
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