Irena hat 1968 Prag verlassen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Paris. Aber weder da noch dort fühlt sie sich zu Hause. Und ohne Heimat kann sie nicht bei sich selbst ankommen. Bis sie Josef trifft, der auch aus Prag geflohen ist und einst Irenas Liebhaber war. Mit ihm hofft Irena, Erinnerungen zu teilen und in ein neues Leben aufzubrechen. Der unsentimentale Melancholiker Milan Kundera erzählt meisterhaft von Exil und Heimat und der traurigen Unmöglichkeit der Rückkehr.
Fischer Verlag, online
Je umfangreichen die Zeit, die wir hinter uns gelassen haben, desto unwiderstehlicher die Stimme, die uns zur Rückkehr auffordert. Diese Sentenz liegt scheinbar auf der Hand, und dennoch ist sie falsch. Der Mensch altert, das Ende naht, jeder Augenblick wird teurer und teurer, und man hat keine Zeit mehr mit Erinnerungen zu verlieren. Man muß das mathematische Paradox der Nostalgie verstehen: am mächtigsten ist sie in der früher Jugend, wenn der Umfang des vergangenen Lebens vollkommen unerheblich ist.
Aus den Nebeln der Zeit, als Josef Gymnasiast war, sehe ich ein junges Mädchen hertvotreten; sie ist groß und schlank, schön, sie ist Jungfrau, und sie ist melancholisch, weil sie sich gerade von einem Jungen getrennt hat. Es ist ihre erste Trennung, sie leidet, aber ihr Schmerz ist weniger stark als das Erstaunen, das sie über die Entdeckung der Zeit empfindet; sie sieht sie wie sie sie vorher noch nie gesehen hat:
Bischer hat die Zeit sich ihr als Gegenwart gezeigt, die voranschreitet und die Zukunft verschlingt; sie fürchtete ihre Schnelligkeit (wenn sie etwas Unangenehmes erwartete) oder empörte sich über sie (wenn sie etwas Schönes erwartete). Diesmal erscheint die Zeit ihr ganz anders; es ist nich mehr die siegreiche Gegenwart, die sich der Zukunft bemächtigt; es ist die besiegte, gefangene, von der Vergangenheit davongetragene Gegenwart. Sie sieht einen jungen Mann, der sich aus ihrem Leben löst und davongeht, auf immer unerreichbar. Hypnotisiert, kann sie nichts anderes tun, als dieses Stück ihres Lebens ansehen, das sich entfernt, sie kann es nur ansehen und leiden. Sie empfindet ein ganz neues Gefühl, das Nostalgie heißt.
Fischer Taschenbuch, 2007, SS. 72-73
Der Altmeister der Missverständnisse und wunderbaren Illusionslosigkeit („Der Scherz“, „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“) hat ein sehr reifes und sehr weises Werk vorgelegt – den perfekten Roman über Heimat und Heimatlosigkeit. Das an Homer erinnernde „Schicksalshafte“, gelegentlich etwas dick aufgetragen, ist ihm ein Vehikel, um mit höchst subtiler Psychologie in viel tiefere Schichten vorzudringen. Souverän komponiert Kundera die verschlungene und assoziationsreiche Handlung. Der Unmöglichkeit, sich selbst in Liebesbeziehungen verständigen zu können – ein ewiges Thema - , hat er eine neue Deutung gegeben: Heimat ist der Ort, wo eine Liebe ihre Erfüllung findet.
Kundera hat mit diesem Roman Die Unwissenheit nach einem langen Weg seinen Ausgangspunk wieder erreicht. Er ist von der Heimat in die Fremde gegangen und zurück in die Heimat, um doch nur endgültig in der Fremde anzukommen. Albert Camus, der Algerien-Franzose, war vor ihm diesen Weg gegangen und an einem Berg aufgelaufen: am Mythos von Sisyphos, Milan Kundera setzt ein anderes Zeichen. Während die Begegnung zwischen Josef und Irena ein einem Fiasko endet, verführt Irenas Mutter, wahrlich nicht mehr die Jüngste, Gustaf, den Lebensgefährten ihrer Tochter. Es bedarf ersichtlich einiger Treuherzigkeit, darin eine Perspektive zu sehen.
Ein Psychologe der Geschichte ist Kundera zuletzt. Was ist die Nostalgie? Eine Form der Unwissenheit. Ein Schatten verlorener Liebe, ein Gespenst der unbefriedeten und unbefriedigten Kreatur. Und grausam ist die Geschichte, weil sie das Leben wie die Liebe erfüllt und entleert, bindet und fragmentiert. Die naive Irena, der immune Josef – sie finden für eine Nacht zueinander; am Morgen ist´s vorbei. – Weiter: wie viel «Leben» bleibt im Gedächtnis? Oder, wie viel «Welt» bleibt noch unberührt vom Rasen der Zeit? – Kundera, ein später Schüler von Proust, hat es schon erkannt: dass erst der Erzähler vielleicht etwas herstellt, wovon dieses Leben niemals wissen kann, ein zitterndes Ganzes. Dafür, Bewunderung und Lob.
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